und Naturwissenschaften
Zeit für einen neuen Materiezustand in Hochtemperatursupraleitern
12. November 2020, von MIN-Dekanat

Foto: UHH/Mathey
Forschende der Universität Hamburg haben gezeigt, wie man in einer faszinierenden Materialklasse, den Hochtemperatursupraleitern, einen Zeitkristall erzeugt. Sie schlagen vor, diese supraleitenden Materialien in einen zeitkristallinen Zustand zu bringen, indem sie mit Licht sogenannte Higgs-Anregungen induzieren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler veröffentlichen nun ihre Ergebnisse in der Zeitschrift „Physical Review Research“.
Wenn man flüssiges Wasser abkühlt, kristallisiert es zu Eis. Angenommen, man nimmt zum Beispiel einen mit Wasser gefüllten Eimer. Wenn das Wasser flüssig ist, können sich die Wassermoleküle überall innerhalb des Eimers befinden. In diesem Sinne ist jeder Punkt innerhalb des Eimers gleichwertig. Sobald das Wasser jedoch gefriert, nehmen die Wassermoleküle wohldefinierte Positionen im Raum ein. Daher ist nicht mehr jeder Punkt im Inneren des Eimers gleichwertig. Physikerinnen und Physiker bezeichnen dieses Phänomen als spontanen Symmetriebruch. Hier wird die Translationssymmetrie im Raum durch die Bildung des Kristalls gebrochen.
Ist es möglich, dass sich Kristalle in der Zeit statt im Raum bilden? Obwohl dies seltsam anmutet, kann ein Zeitkristall entstehen, wenn ein physikalisches System aus vielen wechselwirkenden Teilchen periodisch angetrieben wird. Das bestimmende Merkmal eines Zeitkristalls ist, dass ein makroskopisch beobachtbares Objekt, wie zum Beispiel der elektrische Strom in einem Festkörper, mit einer Frequenz schwingt, die kleiner ist als die Antriebsfrequenz.
Bislang wurden Zeitkristalle in künstlichen Modellsystemen erzeugt. Doch wie sieht es nun mit realen Systemen aus? Ein Stück eines Hochtemperatursupraleiters ist ein solches reales System. Mit seiner bräunlichen, rostigen Farbe ist es wenig sehenswert. Doch sein ungehinderter Elektronenfluss bei Temperaturen bis zu 100 Kelvin (-173 Grad Celsius) stellt eines der spektakulärsten Phänomene der Materialwissenschaft dar.
„Wir schlagen vor, einen Hochtemperatursupraleiter in einen Zeitkristall umzuwandeln, indem wir ihn mit einem Laser bestrahlen“, erklärt Erstautor der Studie, Guido Homann vom Fachbereich Physik der Universität Hamburg. Die Frequenz des Lasers muss auf die Gesamtresonanz zweier fundamentaler Anregungen des Materials abgestimmt werden. Eine dieser Anregungen ist der schwer fassbare Higgs-Mode, der konzeptionell mit dem Higgs-Boson in der Teilchenphysik verwandt ist. Die andere Anregung ist der Plasmamodus, der einer oszillatorischen Bewegung von Elektronenpaaren entspricht, die für die Supraleitung verantwortlich sind.
Co-Autor Dr. Jayson Cosme, der vor kurzem von der Universität Hamburg an die Universität der Philippinen gewechselt ist, fügt hinzu, dass „die Schaffung eines Zeitkristalls in einem Hochtemperatursupraleiter ein wichtiger Schritt ist, da er eine echte dynamische Phase der Materie im Bereich der Festkörperphysik etabliert“. Die Steuerung von Festkörpern durch Licht ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht faszinierend, sondern auch technologisch relevant, wie der Gruppenleiter Prof. Dr. Ludwig Mathey betont: „Das letztendliche Ziel unserer Forschung ist es, Quantenmaterialien nach Bedarf zu entwerfen.“ Mit dem neuartigen Vorschlag wird dieses Unterfangen nun in Richtung dynamischer statt der üblichen statischen Zustände der Materie vorangetrieben, indem eine Strategie zur Gestaltung von Zeitkristallen anstelle von regulären Kristallen entworfen wird, was eine neue Richtung des Materialdesigns eröffnet.
Originalpublikation:
Guido Homann, Jayson G. Cosme, and Ludwig Mathey (2020): Higgs time crystal in a high-Tc superconductor. Phys. Rev. Research 2, 043214 – Published 10 November.